Historie

Die Stiftung PINEL wurde am 11. Mai 2009 gegründet und ins Stiftungsregister des Landes Berlin eingetragen. Die Gründung wurde im Amtsblatt vom 5. Juni 2009 veröffentlicht. Die aktuelle Satzung stammt vom 11. Mai 2009. Die Stiftung hat ihren Geschäftssitz in der Joachimsthaler Straße 14 in 10719 Berlin.

Stiftungsgründer ist der Pinel-Gesellschaft e.V., aus dem letztlich der gesamte Pinel-Verbund – durch Erweiterung und Spezialisierung – entstanden ist. Die höchst interessante Entwicklung des Vereins spiegelt die Berliner Entwicklung der Gemeindepsychiatrie wider. Im Folgenden zitieren wir einen Artikel von Herrn Böckheler aus dem Jahre 2001, der es verdient, für die nächsten bewegten Jahre fortgeschrieben zu werden.

„Nur die Sache ist verloren, die man selber aufgibt“

(Gotthold Ephraim Lessing)

Entstehung und Geschichte der Pinel-Gesellschaft

Hans-Otto Böckheler

In: Wollschläger, Martin (Hg.): Sozialpsychiatrie. Entwicklungen – Kontroversen – Perspektiven. Tübingen, 2001

1. Die Pinel-Gesellschaft als Bürgerrechtsbewegung (1968-1971)

Angefangen hat alles ’68. Ärzte, Psychologen und interessierte Laien gründeten in Berlin die Pinel-Gesellschaft als Bürger(rechts)bewegung. Öffentlichkeitsarbeit leisteten sie gegen die weitverbreiteten Vorurteile in der Bevölkerung über psychisch Kranke und seelisches Leid. Sie wählten sich Phillippe Pinel (1745-1826) als Namenspatron, der in der französischen Revolution als Arzt und Aufklärer dafür gearbeitet hatte, dass die aus dem Reich der Vernunft ausgeschlossenen und in der Salpetrière und Bicêtre angeketteten Irren befreit und als Bürger in die vernünftige Gesellschaft aufgenommen wurden.

1970 organisierte die Pinel-Gesellschaft eine dreitägige spektakuläre Unterschriftenaktion gegen die Neufassung des Bundeszentralregistergesetzes, das eine lebenslängliche Zwangsregistrierung psychisch Kranker vorsah. Ein offener Brief der Pinel-Gesellschaft 1971 in der ZEIT an Bundespräsident Heinemann veranlasste diesen, die Übereinstimmung des Gesetzentwurfes mit dem Grundgesetz zu prüfen, und konnte so das Gesetz verhindern.

2. „Pinel-Gesellschaft e.V. – Gesellschaft zur Förderung einer Dynamischen Psychiatrie“ (1971-1977)

1971 wurde die Pinel-Gesellschaft als gemeinnütziger Verein anerkannt und eingetragen. Im November 1972 rief sie zu einer öffentlichen Demonstration gegen die Entlassung des neuernannten ärztlichen Direktors der Karl-Bonhoeffer-Klinik Professor Flegel auf, der sich für die Reformen veralteter Klinikstrukturen eingesetzt hatte. Obwohl ca. 2000 Menschen dem Aufruf folgten, war ihm letztlich kein Erfolg beschieden. Am 28.11.1974 erfolgte die Eintragung der Gesellschaft in die beim Präsidenten des Bundestages geführte „Öffentliche Liste“. Damit wurde das Recht erworben, angehört zu werden – besonders relevant bei Gesetzesvorlagen, die die Versorgung psychisch Kranker betrafen.

Die in der Folgezeit unternommenen Bemühungen zur Gründung eines eigenen Psychiatriefilmverleihs blieben erfolglos.

3. „Pinel-Gesellschaft e.V. – Initiative für psychisch Kranke“

1977 kam es zur offiziellen Trennung von Dr. Günter Ammon und der ihm verbundenen Gruppe. Der Name des Vereins wurde von „Pinel-Gesellschaft e.V. – Gesellschaft zur Förderung einer Dynamischen Psychiatrie“ in „Pinel-Gesellschaft e.V.- Initiative für psychisch Kranke“ umgeändert. Es sollte damit einerseits ausgedrückt werden, dass sich der Verein weiterhin zu seiner Geschichte und zu den Aktionen der Vergangenheit bekennt und gleichzeitig hervorgehoben werden, dass der neue Name mehr den tatsächlichen Aktivitäten der Gesellschaft entspricht.

Die weitere Geschichte der Pinel-Gesellschaft ist eng mit mir (Hans-Otto Böckheler) verbunden. Sie kann nur als persönliche Geschichte annähernd verständlich werden, obwohl sie ohne die vielen Mitstreiter nicht denkbar gewesen wäre.

Ich kam 1977 zur Pinel-Gesellschaft. Davor hatten mich die Erfahrungen meiner Arbeit in den siebziger Jahren in der Gemeindepsychiatrischen Klinik Häcklingen in die Demokratische Psychiatrie Italiens geführt, nach Arezzo. Die Arbeit dort, die Auflösung der Kliniken – in der ehemaligen Anstalt sind heute Büros und Schulen -, der Aufbau der 24-Stunden Dienste, der sogenannten „Zentren für geistige Gesundheit“ und die Auseinandersetzung mit Augustino Pirella waren für mich prägend. Nach zwei Jahren Arezzo kehrte ich in meine Wahlheimatstadt Berlin zurück. Pirella hatte mir noch mit auf den Weg gegeben, dass die anachronistischen Anstaltsstrukturen über kurz oder lang überall verändert werden müssten. Um den Erodierungsprozess zu beschleunigen, wäre es sinnvoll, beim Aufbau von Wohnmöglichkeiten anzufangen, denn so Pirella: “Wohnen müssen sie alle.“

Mein Anliegen war, die italienische Praxis auch in Berlin zu verankern. Um die politische und inhaltliche Arbeit voranzubringen, ging ich in den Gesundheitspolitischen Ausschuss der DGSP und wurde Vorstandsmitglied der Berliner Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Es ging darum, die Sozialpsychiatrie für eine Politik im Sinne der Demokratischen Psychiatrie zu gewinnen und sich gleichzeitig von der Antipsychiatrie wie dem klassischen medizinischen Krankheitsmodell abzugrenzen. Anders als in diesem Krankheitsmodell verstand und verstehe ich psychische Erkrankung in ihren unterschiedlichsten, auch den psychotischen Ausdrucksformen funktioneller Psychosen als Lösungsversuche, die allerdings missglückt sind. Auch unverständliche und scheinbar absurd wirkende sogenannte schizophrene Äußerungen sind daher wichtige Mitteilungen, die erst auf dem Hintergrund der persönlichen Lebensgeschichte und aktuellen Situation als unterdrückte Ängste und Bedürfnisse verstehbarer werden können.

Mein Verständnis von seelischem Leid führten mich zur Psychoanalyse und schlussendlich dazu, Psychoanalytiker zu werden. Ich wollte jedoch nicht nur als solcher ambulant arbeiten, sondern mich auch weiterhin in der Pinel-Gesellschaft betätigen, weil ich hier ein Feld sah, auch politisch auf das hinzuarbeiten, was mir wichtig schien und bis heute noch wichtig ist. Um noch einmal die italienische Botschaft, die ich mit nach Deutschland gebracht hatte, in Schlaglichtern aufleuchten zu lassen: ein Ende der Psychiatrischen Klinik, statt dessen psychiatrische Krisenbetten im Allgemeinkrankenhaus, ambulante psychiatrische Basisdienste mit 24 Stunden Präsenz und einem multiprofessionellen Team, zuständig für einen Subsektor von jeweils 50.000 Einwohnern, finanziert durch ein Budget Global und – den bestehenden Verhältnissen zum Trotz – mit der meisten Hilfe für die Schwerstkranken.

Heute nach fünfundzwanzig Jahren meine ich nach wie vor, dass wir darauf hinarbeiten müssen, die Erkenntnisse der Psychotherapie und der Demokratischen Psychiatrie zusammenzuführen. Die deutsche Sozialpsychiatrie ist in diesem Zusammenhang nicht besonders weit fortgeschritten, zumal sie die stationäre psychiatrische Versorgung nie wirklich infragestellt hat. Unsere Arbeit hat gezeigt, dass das zunächst Gemeinsame von Psychotherapie und Sozialpsychiatrie, nämlich die Betonung und Rekonstruktion der Lebensgeschichte der Betroffenen, in der Praxis unter ganz unterschiedlichem Vorzeichen erfolgt. Auch eine engagierte Sozialpsychiatrie bewegt sich auftragsgemäß zwischen Fürsorge und Kontrolle, während die Psychotherapie von einer anderen Subjekt- bzw. Handlungsautonomie ausgehen kann.

 3.1. Die Einrichtung der ersten Therapeutischen Wohngemeinschaften

 In dem Bewusstsein, ohne den Hintergrund einer Institution nichts ausrichten zu können, war ich 1977 vor meiner Rückkehr aus Italien mehrere Male in Berlin, um mich um eine Stelle in der psychiatrischen Abteilung Havelhöhe zu bemühen, die für den Bezirk Schöneberg zuständig war, in dem meine Wohnung lag. Bei den Bewerbungsgesprächen versprach ich, „keine Unruhe in der Klinik zu verbreiten und auch nicht die Auflösung derselben zu versuchen“. Aber in meinem Arbeitsvertrag wurde aufgenommen, dass ich mich im Namen der Klinik um den Aufbau einer Therapeutischen Wohngemeinschaft kümmern könne.

Zuerst schlug mir viel Skepsis entgegen. Der Grund-Tenor klang etwa so: „Wohngemeinschaften für psychisch Kranke? Das ist eine Überforderung!“ Die Unterstützung des damaligen Klinikleiters erhielt ich, da ich die WGs als Fortsetzung der früheren Familienpflege der 20er Jahre darstellen konnte, gewissermaßen die WG nach der weitgehenden Auflösung von ländlichen Großfamilienstrukturen als zeitgemäße und nicht etwa revolutionäre Fortsetzung dieser ehrwürdigen Reformtradition.

Es kam zu einem auf zwei Jahre begrenzten Arbeitsvertrag mit weitgehenden Vollmachten für den Aufbau einer Wohngruppe im Berliner Innenstadtbezirk Schöneberg einschließlich der Suche nach einem Träger. Im Oktober 1977 begann ich in der Klinik Havelhöhe mit meiner Arbeit.

Bereits im Dezember 1977 kam es über den Hinweis des Klinikleiters zu einem ersten Treffen zwischen dem damaligen Vorsitzenden der Pinel-Gesellschaft und mir. Ich rannte offene Türen ein. Die ausschließlich ehrenamtlichen Vereinsmitglieder machten zu dieser Zeit gerade mit Stellwänden, auf denen die Trostlosigkeit des Klinikzimmers dargestellt war, am Kurfürstendamm auf die Notwendigkeit von Wohnraum für psychisch Kranke aufmerksam. Die häufigste Reaktion der Passanten war, man solle die Leute in der Klinik lassen, alles andere sei zu gefährlich. Bezüglich meines eigentlichen Vorhabens, ambulante psychiatrische Basisdienste zu schaffen, gab es schon beim ersten Treffen Übereinstimmung, zumal der damalige Vorsitzende gut über die italienische Reformpsychiatrie Bescheid wusste.

Der Träger der geplanten Wohngemeinschaft sollte also die Pinel-Gesellschaft werden. Mit ihr wurde vereinbart, dass ich mich unter Einbeziehung des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpD) Schöneberg und der Klinik Havelhöhe, die für die Region aufnahmeverpflichtet war, um die Gründung einer Therapeutischen Wohngemeinschaft bemühen sollte. Ich bekam diese Aufgabe eigenverantwortlich übertragen mit der Zusage von 10.000 DM aus privaten Mitteln der Vorstandsmitglieder für die Anmietung der ersten Wohnung. 1978 erhielt ich die Unterstützung des leitenden Arztes des SpDs sowie die Zusage von vier SpD-MitarbeiterInnen, ehrenamtlich an der Konzeption mitzuarbeiten und später auch stundenweise in der zukünftigen Wohngemeinschaft mitzubetreuen.

Nach intensiver praktischer und theoretischer Vorbereitungszeit gemeinsam mit den MitarbeiterInnen des SpDs Schöneberg konnten 1979 in der Kurfürstenstraße 33 zwei sehr heruntergekommene Großraumwohnungen für insgesamt 12 BewohnerInnen, die ohne Ausnahme aus der regional zuständigen Klinik kommen sollten, angemietet werden. Die ersten BewohnerInnen zogen am 1. 10. 1979 in eine der beiden Wohnungen ein. Im Januar 1980 wurde auch die zweite Wohnung bezogen. Aus Mitteln der Deutschen Klassenlotterie Berlin wurden rund 69.000 DM für Instandsetzung und Ausstattung der Wohnräume bewilligt. Im November wandten wir uns mit einem detaillierten Antrag an den Senator für Gesundheit und Umweltschutz, um Personalmittel zu bekommen.

Am belastendsten war in dieser Zeit die Sorge, eine Finanzierung könne dadurch nicht zustande kommen, dass in den WGs irgendetwas schief gehe könnte. Häufig übernachteten daher während des ersten Jahres in Krise geratene WG-Bewohner bei mir zu Hause. Die BewohnerInnen hatten meine private Telefonnummer; die vier MitarbeiterInnen des SpDs arbeiteten wöchentlich je zwei Stunden mit und waren während der Dienstzeiten erreichbar. Ende 1980 wurde von der Senatsabteilung – wie ich weiter unten noch ausführen werde, nicht ohne Dramatik – eine Finanzierungszusage für eine Sozialarbeiterstelle und meine Stelle über Zuwendungsmittel gegeben. Eine Kollegin wurde im November 1980 eingestellt und die MitarbeiterInnen aus dem SpD zogen sich aus der Betreuung zurück. Die ersten offiziell finanzierten Wohngemeinschaften für erwachsene psychisch kranke Menschen in West-Berlin waren geschaffen.

Es gab allerdings bereits offiziell finanzierte Wohngruppen im Jugendbereich und zwei Wohngruppen für Erwachsene von Hilfsvereinen der damaligen Landesnervenklinik Spandau und der Karl-Bonhöffer-Klinik, die jedoch sehr weitmaschig durch Klinikpersonal und teilweise ABM-Kräfte betreut wurden und noch keine eigene Finanzierung hatten.

Aus der Angst heraus, dass Klinikeinweisungen in die Psychiatrie als unser Versagen gegen uns verwandt werden könnten und daran die offizielle Anerkennung scheitern könnte, bekam das über meiner Wohnung liegende Arbeitszimmer für die BewohnerInnen während der ersten Jahre eine Art „außergewöhnlichen Nachtklinikstatus“: In Situationen, in denen heutzutage sicherlich eine Klinikeinweisung erfolgen würde, brachten die MitbewohnerInnen den entsprechenden Menschen teilweise zu dritt oder zu viert in die zu Fuß erreichbare Wohnung, schleppten ihn/sie mehr oder weniger 4 Treppen hoch in das unter dem Dach gelegene Zimmer, das eine telefonische Verbindung zur Hauptwohnung hatte, und übernachteten dort auch teilweise mit. Vormittags um 8 Uhr wurde gemeinsam gefrühstückt und es ging tagsüber wieder in die WG. Eine Bewohnerin der Therapeutische WG Kurfürstenstrasse bezeichnete die Situation in der WG einmal als „Tanzboden der Psychotiker“.

Verpflichtend für jede der beiden Wohngruppen war lediglich die jeweils 2mal wöchentlich stattfindende Gruppensitzung, die bis November 1980 jeweils von einer der 4 Mitarbeiterinnen des SpDs und mir geleitet wurde. Ohne die Unterstützung dieses Dienstes auch während der Tageszeiten wäre es nicht gegangen.

Während des ersten Jahres wurde von den WG-BewohnerInnenen selbst in akuten Krisensituationen niemand in die Klinik aufgenommen. Dies gelang zum einen durch meine eigene Rund-um-die-Uhr Erreichbarkeit (innerhalb von 30 Minuten wurde jede Nachricht garantiert abgehört und zurückgerufen) zum anderen aber durch die völlig unkonventionelle Unterstützung vieler Mithelfer. So war ein Arzt der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Steglitz, der gemeinsam mit mir im Vorstand der Berliner Gesellschaft für soziale Psychiatrie tätig war, bereit, in Extremsituationen unabhängig von der Bettenbelegung mehrmals für 1-2 Tage BewohnerInnen der WG’s inoffiziell zu behandeln und mich auch anschließend zu unterstützen. Ein weiterer mit mir über die analytische Ausbildung befreundeter Arzt des Königin-Elisabeth-Krankenhauses, das keine psychiatrische Betten hatte, aber 5 Minuten Fußweg von der WG Kurfürstenstrasse entfernt lag, nahm auf der internistischen Station mehrmals BewohnerInnen in Krisen auf. Bei Besuchen auf der Station war es in diesen Fällen immer beeindruckend, den Bewohner dort völlig anders zu erleben, als man es von der psychiatrischen Aufnahmestation her gewohnt war. Im Flur und Aufenthaltsraum wurde mit ihm diskutiert, irgendein somatisch Kranker hatte in der Familie oder im Freundeskreis schon einmal mit psychisch Kranken zu tun gehabt. Auch ich diskutierte manchmal auf den Fluren mit. Alles wirkte sehr viel „normaler“. In einem Fall wurden Psychopharmaka gegen meinen Rat nicht verabreicht und die dann doch eingetretene Eskalation mit zerbrochener Fensterscheibe wurde relativ gelassen hingenommen und mir auch nicht zum Vorwurf gemacht. Noch heute bin ich der Meinung, eine bessere Öffentlichkeitsarbeit als in diesem Beispiel kann es nicht geben. Vieles wäre anders, würde die damalige aus der Not geborene Praxis zur Regel. Um das überall realisieren zu können, wäre es sicher hilfreich, dem Klinikpersonal ein Fachteam aus dem ambulanten Bereich zur Seite zu stellen.

3.2. Vorläufige Sicherstellung der Finanzierung

Das Jahr 1980 war für die Entwicklung der Pinel-Gesellschaft weichenstellend. Im Januar 1980 fand im überfüllten Audi-Max des Henry-Ford-Baus der FU eine Protestveranstaltung gegen die Zustände in der Berliner Psychiatrie statt. Die Veranstalter waren die DGSP, die Aktion Psychisch Kranke und die Liga für Menschenrechte. Es wurden Alternativen zur bis dahin ausschließlich stationären Psychiatrie eingefordert. Ich war entschlossen, zusammen mit meinen Mitkämpfern hier eine verbindliche Zusage der Finanzierung der Wohngruppen zu erhalten. Zuvor hatte mein damaliger Lehranalytiker mir wegen dieses waghalsigen Vorgehens einen gewissen Realitätsverlust bescheinigt. Zu dieser Zeit bestand für mich das Risiko, dass bei einer Nichtfinanzierung der Wohngruppen auch die analytische Ausbildung beendet gewesen wäre. Im Audi-Max waren nun sowohl die politisch Verantwortlichen als auch die wohlinformierte Presse anwesend. Für mich völlig überraschend kam die Aussage der Senatsvertretung, dass sie gerne komplementäre Angebote schaffen würde und nur darauf warte, dass in dieser Richtung etwas aufgebaut würde. Ich war so geschockt, dass ich am Mikrofon nur noch unverständliches Gestammel hervorbrachte. Hinter mir standen jedoch meine damaligen Mitstreiter und Freunde, die es bis heute geblieben sind. Diese nutzten die Gunst der Stunde und brachten es fertig, dass eine öffentliche Zusage für mich und eine Sozialarbeiterin gegeben wurde.

Im Mai fand ebenfalls im überfüllten Henry-Ford-Bau eine von mir moderierte Großveranstaltung mit Franco Basaglia über die italienische Psychiatriereform statt, in der noch einmal vehement eine Veränderung der Berliner Psychiatrie eingefordert wurde.

Im Herbst 1980 nahmen über 7000 TeilnehmerInnen bei einer Großveranstaltung der DGSP in Bonn teil, dem „Sternmarsch zur Auflösung der Großkliniken“. Da ich als Mitorganisator teilnehmen musste und wollte, standen ich vor der Frage, was in der Zeit mit den BewohnerInnen der beiden WGs geschehen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Präsens der Abend- und Nachtstunden sowie an den Wochenenden allein durch mich abgedeckt worden. Die SPD-Mitarbeiterinnen lehnten es ab, nun auch noch am Wochenende für die WG’s tätig zu sein. Daraufhin übernahmen 6 mit mir befreundete bzw. bekannte Fachärzte für Psychiatrie, die ebenfalls zum Sternmarsch fuhren, die Patenschaft für je 2 BewohnerInnen, wozu auch die Finanzierung von Fahrt, Unterkunft etc. gehörte.

Die BewohnerInnen nahmen bei der Veranstaltung an verschiedenen Arbeitsgruppen teil. Um diejenigen, die dazu nicht in der Lage waren, kümmerte sich abwechselnd je ein „Pate“. Alles lief besser als erwartet und den BewohnerInnen ging es ausgesprochen gut, so dass sie alle in der Nacht von Sonntag auf Montag wohlbehütet in die Kurfürstenstrasse zurückgebracht werden konnten.

Versehentlich hatten wir in der Wohnküche einer Wohngruppe einen Stapel von „Auflösungsplakaten“ liegen lassen. Eine Bewohnerin, ehemalige langjährige Patientin der Landesnervenklinik Spandau, nahm in derselben Nacht die Plakate, schrieb darunter „Mein Therapeut Hans-Otto Böckheler und ich von der Therapeutischen Wohngruppe Kurfürstenstrasse“ und beklebte mit den Plakaten mehrere Außenwände verschiedener Klinikstationen. Sie war sichtlich stolz darauf, an dieser für sie beeindruckenden Veranstaltung in Bonn, wo sie sich auch für Wohngemeinschaften in einer entsprechenden Arbeitsgruppe beteiligt hatte, teilgenommen zu haben.

Schon am frühen Morgen des nächsten Tags rief der persönliche Referent des Klinikleiters bei der Senatsverwaltung an und forderte, die beiden Wohngemeinschaften, für die erst in diesem Jahr eine notdürftige Finanzierung erreicht worden war, zu schließen. Patienten würden von dem Leiter der Wohngruppen indoktriniert und für seine Zwecke missbraucht. Vom Senat wurde der damals einflussreiche Chefarzt der Abteilung Havelhöhe informiert. Er setzte sich ohne wenn und aber für mich ein, rief mich sofort vormittags an, vermittelte mir die Ernsthaftigkeit der Lage, aber auch, dass er davon überzeugt sei, dass ich trotz meines nicht mit seinen Auffassungen übereinstimmenden Anliegens sicherlich die Patienten nicht missbrauche. Er konnte mit gewissem Humor bei aller Ernsthaftigkeit verstehen, wie es dazu gekommen war.

Die Woche verging mit Unterstützung von Freunden, die wiederum persönliche Kontakte zu leitenden Persönlichkeiten in der Senatsabteilung für Gesundheit hatten, damit, dass Tag und Nacht daran gearbeitet wurde, die Schließung der Wohngruppen zu verhindern und die versprochene Sozialarbeiterinnenstelle im November zu besetzen. Mit den gemeinsamen Aktivitäten, einschließlich zweier Sit-ins in Gremien, erreichten wir schließlich unser Ziel. Zudem gelang es, dass der besagte persönliche Referent der Klinikleitung als Mitglied der Berliner Gesellschaft für Soziale Psychiatrie ausgeschlossen und kurz danach auch als Sprecher des damaligen in der Berliner Psychiatriepolitik einflussreichen Momper-Kreises abgesetzt wurde.

Während die Wohngemeinschaften diesen Angriff überlebten, wurde die damals so aktive, Plakat klebende Patientin jedoch zu seinem Opfer – und zwar bis auf den heutigen Tag. Sie wurde in der Folge akut psychotisch und bekam über Monate hinweg das Essen vor die Zimmertür gestellt, die sie verriegelt hatte. Nur nachts ging sie hin und wieder mit einem Messer bewaffnet in die Wohnküche, um sich etwas aus dem Kühlschrank zu holen. Kommunikation fand durch Schreiben statt, die unter dem Türschlitz hin und hergeschoben wurden. Sie befand sich in ihrer Psychose Seite an Seite mit mir schwer bewaffnet im Guerillakrieg. Die ebenfalls durch den Türschlitz geschobenen Medikamente lehnte sie entschieden ab. Zur Zwangseinweisung kam es, als sie nach Monaten während eines kalten Wintertages leicht bekleidet auf die Strasse ging, in einem einschlägigen Lokal Männer anmachte, ihr das Geld gestohlen wurde und es zu Handgreiflichkeiten kam. Alle weiteren Bemühungen in den Folgejahren schlugen fehl. Lange lebte sie in Kliniken und später im Heim. Selten habe ich persönliche und professionelle Grenzen so drastisch erlebt wie bei dieser Patientin.

An meinem Geburtstag im Dezember 1980 wurde die neue Situation mit vielen MitstreiterInnen gefeiert. Einige meinten bzgl. der Folgen des Sternmarsches für die o.g. Patientin, es sei ein Fehler gewesen, gleich so schwerkranke Menschen aufzunehmen. Man hätte erst prognostisch günstige Patienten, quasi Gesunde, aufnehmen sollen, die Erfolge durch Studien belegen und veröffentlichen und dann nach der Finanzierungszusage sich an die Arbeit machen sollen. Dennoch, es war eine herrliche Stimmung, und da kam – der Berliner Landesarzt war auch bei der Feier – ein Anruf eines Bewohners aus der Kurfürstenstraße. In der anderen Wohngruppe sei mit dem Feuerlöscher bis in die letzte Ritze alles bestäubt worden, überall liege eine Staubschicht. Ich fuhr sofort in die WG, man konnte vor Staub fast nichts sehen. Alle hatten sich in ihre Zimmer verzogen. Es gelang schließlich, sämtliche BewohnerInnen in der Wohnküche zu versammeln. Ich bestand darauf, bis am nächsten Abend müsse alles gesäubert sein. Neben meinem Ärger zeigte ich aber auch Verständnis für ihr Enttäuschung, dass ich nicht mit ihnen gefeiert hätte. Aber auch ich hätte Anspruch auf ein Stück Privatleben.

Die BewohnerInnen beider Wohnungen putzten dann die Wohnungen bis in die letzten Ritzen – teilweise mit Zahnbürsten – so sauber, dass wirklich nichts mehr zu sehen war. Ich hielt das kaum für möglich, freute mich unglaublich, und am Abend darauf wurde in der Wohnküche von der neuen Sozialarbeiterkollegin und mir ein Festessen gemacht, an dem alle BewohnerInnen teilnahmen.

3.3. Der Therapeutische Ansatz der WG-Arbeit

Wie vereinbart zogen sich die Mitarbeiterinnen des Sozialpsychiatrischen Dienstes ab Januar 1981 aus der Betreuung zurück. In den kommenden Monaten kamen die Gehaltszahlungen zwar oft nur stockend, wurden letztlich aber immer bezahlt.

Die bereits eingeführten Gruppensitzungen wurden nach Einstellung der Sozialarbeiterin, die den Grossteil der täglichen Unterstützungsarbeit übernahm, mit dieser gemeinsam geführt. Wir entwickelten eine Art „selbstgestrickter integrierter Gruppenpsychotherapie“ für die BewohnerInnen der Wohngruppen. Die Arbeit an der eigenen Biographie und die Auseinandersetzung mit der ersten psychiatrischen Krise sollte mit der konkreten täglichen Betreuungsarbeit verknüpft werden. Vor allem war uns wichtig, gemeinsam die Konstellationen, die seit der ersten Krise in immer wieder ähnlicher Weise auftraten, zu verstehen, um entsprechend präventiv arbeiten zu können. Die Erkenntnisse aus der Gruppenarbeit sollten in die Betreuungsarbeit einfließen und umgekehrt. Zum Beispiel wurden häufig Ausflüge zum früheren Elternhaus bzw. sonst wichtigen Orten ihres Lebens gemacht und die Erlebnisse kamen dann wieder in die Gruppe. Wir konnten dabei erfahren, dass in diesem Rahmen Möglichkeiten zur Wiederaneignung der eigenen Lebensgeschichte in einem bisher ungeahnten Maße gegeben waren. Bekannterweise wären diese BewohnerInnen ja bei allen kassenfinanzierten Therapieverfahren als prognostisch ungünstig abgelehnt worden, weil sie den Indikationskriterien nicht entsprechen.

Bis heute kenne ich in Deutschland kein Beispiel einer integrierten Psychotherapie dieser Art, obwohl die Forderung nach einer Verknüpfung von Sozialpsychiatrie und Psychotherapie schon damals für psychosekranke Menschen bzw. sogenannte Frühgestörte bestand. Öfter erinnerte ich mich daran, wie Agostino Pirella mir ins Gewissen redete, dass die Erkenntnisse der Psychoanalyse auch für Menschen, die an funktionellen Psychosen leiden, weiterentwickelt werden müssten. Ebenso, wie psychisch kranke Menschen den körperlich Kranken gleichgestellt werden müssten, sei es auch erforderlich, dass ihnen psychotherapeutisch ebenso wie den Neurosekranken geholfen werde. Meiner bis heute festen Überzeugung nach ist dies aber nur durch integrierte Therapieansätze möglich, die ein Setting zur Grundlage haben, das die Verknüpfung von alltagsweltlichen Erfahrungen und Versöhnung mit der persönlichen Lebensgeschichte zulässt. Nur dieses integrierte Vorgehen ermöglicht auch für diesen Personenkreis eine psychotherapeutische Herangehensweise. Bei der integrierten Psychotherapie dieser Art ist die Arbeit des Betreuers nicht weniger wichtig als die des Therapeuten. Mit der Ausweitung der Pinel-Gesellschaft konnte ich diesen Ansatz zu meinem großen Bedauern nicht weiterführen. Vergessen ist er jedoch nicht, und noch immer wünsche ich mir, dass wir hier wieder einmal anknüpfen können.

Schon für die ersten und später alle unsere weiteren Wohngemeinschaften wurde eine Wohnküche eingeplant. Ausgehend von der Überzeugung, dass bei allen BewohnerInnen das Grundproblem sich in der gestörten Kommunikationsfähigkeit ausdrückt, wollten wir auch über die Gestaltung der räumlichen Rahmenbedingungen gezielt darauf Einfluss nehmen. Da in der Wohnküche die Kühlschränke standen und die Essenszubereitung stattfand, kamen sie nicht umhin, sich immer wieder dort zu begegnen. Ausnahmen – z.B. zeitweise in besonderen Krisensituationen einen eigenen Kühlschrank und eine Kochplatte im Zimmer haben zu können – wurden in den Gruppengesprächen zuvor intensiv besprochen. Die Meinung der MitbewohnerInnen war auch bei einer solchen Entscheidung von großer Bedeutung.

Neben der täglichen Betreuungsarbeit bestand die Hauptbelastung vor allem darin, dass die weitere Existenz der Wohngemeinschaften nach wie vor auf sehr brüchigem Boden stand. Es musste eine nicht nur auf Zuwendungsmitteln basierende Finanzierung gefunden werden, da diese ja jederzeit wieder gestrichen werden konnte. Mit großen Bauchschmerzen bemühten wir uns also um eine Tagessatzfinanzierung, da nur diese einen einklagbaren Rechtsanspruch der BewohnerInnen ermöglichte. Uns war klar, dass diese eine Registrierung beim Gesundheits- und Sozialamt bedeutete mit der Folge, dass die Angehörigen bei Überschreiten einer gewissen Einkommensgrenze im Gegensatz zum Aufenthalt in der Klinik zu den Kosten herangezogen werden konnten. Durch die intensive und unkonventionelle Unterstützung einer Senatsmitarbeiterin bei der Abteilung Gesundheit des Senats wurde diese Finanzierungsform dann Ende 1982 durchgesetzt und seit diesem Zeitpunkt zu einem festen Grundbaustein der komplementären Angebote. Für die Pinel-Gesellschaft bedeutete dies eine entscheidende finanzielle und personelle Konsolidierung der Anfangszeit. Mehr noch aber war es die Geburtsstunde der Entwicklung der komplementären Psychiatrie in Berlin, denn auf dieser Basis konnte sich in den Jahren danach eine große Zahl von Trägern entwickeln.

Wir selbst eröffneten bereits kurz nach dieser Entscheidung die dritte TWG mit einer weiteren Personalstelle

Die bisherige Darstellung erfolgte überwiegend in der Ich-Form und ist sehr persönlich gehalten. Es war eine Pinel-Etappe, die untrennbar mit meiner eigenen Geschichte verwoben war. Und es war damals eine Zeit, in der es vielen Menschen an anderen Orten ähnlich wie mir ging. Aber die Initiatoren wären ohnmächtig geblieben, hätte es nicht viele Mitkämpfer gegeben, die sich mit sehr großem Einsatz und teilweise persönlichem Risiko für die Sache eingesetzt hätten. Und es war vor allem eine stark politisierte Zeit, in der Tausende von Teilnehmern an Demonstrationen und anderen Großveranstaltungen die Sozialpsychiatrie als ein Politikum erkannten und betrieben, wie es heute kaum mehr vorstellbar ist. In der Folgezeit stand dann die Professionalisierung und Erweiterung im Vordergrund.

4. Vom „Gesinnungsverein“ zur etablierten Institution

In den folgenden Jahren durchlief die Pinel-Gesellschaft eine Entwicklung, die sie mit vielen sozialpsychiatrischen Initiativen teilt, nämlich von einem basisdemokratischen Verein zu einer Institution der Gesundheitsversorgung, einer gemeinnützigen gGmbH mit flacher, dennoch existierender Hierarchie und z.Zt. 186 festangestellten MitarbeiterInnen und 140 Aushilfen (einschließlich der Nachtwachen).

Die meisten Mitarbeiter sind noch immer SozialarbeiterInnen. Zunächst konnten wir bereits geschulte und hochengagierte Sozialarbeiterinnen über meine damalige Tätigkeit als Lehrbeauftragter für Psychiatrie an der Staatlichen Fachhochschule für Sozialarbeit als MitarbeiterInnen gewinnen. Mehr und mehr vermischte sich dann aber die Berufsgruppenzusammensetzung. Zuerst in den Enthospitalisierungsprojekten, später aber auch darüber hinaus, kamen Kranken- und Altenpfleger, Arbeits- und Physiotherapeuten, Hauswirtschaftskräfte und Köche, und vereinzelt Psychologen und Ärzte hinzu. Ein weiterer Geschäftsführer für den kaufmännischen Bereich und die Verwaltung, zuvor Verwaltungsleiter einer großen psychiatrischen Klinik, sowie zusätzliches Verwaltungspersonal wurden eingestellt.

Heute ist die Pinel-Gesellschaft an der psychosozialen Versorgung von vier Berliner Bezirken (Schöneberg, Wilmersdorf, Hohenschönhausen und Pankow) maßgeblich beteiligt. Sie hat mit 414 KlientInnen Betreuungsverträge, davon 356 in unterschiedlichen Wohnbetreuungsformen und 58 in drei Beschäftigungstagesstätten. 34 Arbeitsplätze in Zuverdienstprojekten wurden geschaffen. Außerdem ist sie Träger von drei Kontakt- und Begegnungsstätten.

Die Organisationsstruktur ist auf die Bezirke dezentralisiert. Jeder Bezirk hat einen Bezirksleiter, der schwerpunktmäßig für die kaufmännischen und administrativen Aufgaben verantwortlich ist und einen Therapeutischer Leiter, der sich um Arbeitsinhalte kümmert und – zusätzlich zur externen Supervision – dem Betreuungspersonal zur Seite steht. Zusammen sind die beiden Leiter im Bezirk für die Weiterentwicklung der Arbeit verantwortlich und vertreten die Pinel-Gesellschaft auf Bezirksebene in gegenseitiger Absprache nach außen. Jeder Bezirksstelle ist eine Verwaltungskraft zugeordnet. Die bezirklichen Verwaltungen unterstehen der Geschäftsführung der gGmbH, die ihrerseits vom Vorstand abhängt. Der Vorstand des eingetragenen Vereins, aus dem 1999 die gGmbH   ausgegründet wurde, ist seinerseits der Mitgliederversammlung der Pinel-Gesellschaft rechenschaftspflichtig – einem immer noch bunten Häufchen aus Angehörigen, Psychiatrieaktivisten, Psychiatrieerfahrenen und Mitarbeitern. Seit 1990 gibt es auch einen Betriebsrat.

Im Folgenden wird ausgeführt, wie fachliche, historische und politische Gegebenheiten, günstige und ungünstige Konstellationen zu diesem raschen Wachstum beitrugen.

4.1. Die Ausdifferenzierung der betreuten Wohnformen

Das Betreute Einzelwohnen (BEW)

Jedem Bezirk wird inzwischen nach dem Berliner Psychiatrieentwicklungsplan ein Kontingent an Plätzen im Betreuten Einzelwohnen und anderen Wohnformen zugewiesen. Im konkreten Fall entscheidet die bezirkliche Fallkonferenz über die Aufnahme. Die Finanzierung erfolgt über das Sozialamt und die Krankenkassen. Mit jedem der zu Betreuenden schließt der Träger, in unserem Fall die Pinel-Gesellschaft, einen Betreuungsvertrag ab. Die Ziele der Betreuung werden in einem Betreuungsplan individuell ausgehandelt. In der Regel gehören dazu Verbesserung der sozialen Situation, Entwicklung eines Verständnisses der eigenen Krisen, Verselbständigung und Entwicklung von Lebensperspektiven, Arbeit gegen Verwahrlosung, Auseinandersetzung mit der Medikation und Reduktion der Frequenz von Klinikbehandlungen. Ebenso wie in der Wohngruppenbetreuung arbeiten die Mitarbeiter im Betreuten Einzelwohnen nach dem Bezugsbetreuersystem, wonach ein Betreuer die Hauptbezugsperson in der therapeutischen Beziehung zum Klienten ist, die jedoch durch das Team während Krankheit und Urlaub vertreten werden kann. Die Betreuung richtet sich zuallererst nach dem personenbezogenen Unterstützungsbedarf. Eine Auflistung der sehr vielfältigen Angebote würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Für alle Klienten finden Einzelgespräche, Gesprächsgruppen und gemeinsame Unternehmungen statt. Im Falle eines Klinikaufenthaltes wird der Kontakt aufrechterhalten. Insgesamt ist die Pinel-Gesellschaft z.Zt. Träger von insgesamt 160 Plätzen im Betreuten Einzelwohnen. Davon stehen im Pankower Wohnstättenverbund 3 Plätze für gerontopsychiatrische Klienten zur Verfügung.

Das Apartmentwohnen und Wohnen im Verbund

Das Enthospitalisierungsprogramm des Berliner Senates von 1993 sah vor, Wohnplätze für LangzeitpatientInnen außerhalb der Kliniken einzurichten.

So entstand 1995 im Grunewald, der Villengegend Wilmersdorfs, unser erstes Apartmenthaus. Die Gehag, eine gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft, baute Anfang der 90er Jahre dort eine Siedlung mit fünf Häusern. Schon in der Planungsphase war es gelungen, ein Haus unter der Trägerschaft der Pinel-Gesellschaft für psychisch kranke Menschen zu reservieren und auch auf die Bauplanung einzuwirken. Es entstanden 14 separate Kleinwohnungen mit Duschbad und Küchenzeile und je einem Wintergarten, der mit der Nachbarwohnung geteilt wird. Zwei der 14 Wohnungen sind für Paare, alle anderen für Alleinlebende. Es gibt zwei große Gemeinschafträume, einer davon mit einer Küche für gemeinsames Essen. Im Keller gibt es Werkstatt- und Waschräume, vor dem Haus befindet sich eine gartenähnliche Freifläche. Eine der Wohnungen ist für das Betreuerteam. Die Raumaufteilung ermöglicht jederzeit einen Rückzug in die eigene, abschließbare Wohnung und fördert das Führen eines eigenen Haushaltes. Durch die vielen Gemeinschaftsräume und –flächen wird eine Kontaktpflege angenehm gemacht und erleichtert. In diesem Fall konnten sich die zukünftigen Bewohner auch an der Farbgestaltung beim Innenausbau beteiligen. Nach dem Bezug des Hauses wurde die Hausgemeinschaft gepflegt durch Hausvollversammlungen und gemeinsame Mahlzeiten und Aktivitäten. Die Betreuungsgemeinschaft und ihre Wohnform geht auf die spezifische Nähe/Distanzproblematik vieler psychisch kranker Menschen ein.

Diese Erfahrungen flossen in die Konzeption der späteren Apartmenthäuser in Pankow ein. Insgesamt verfügen wir heute über 30 Plätze in dieser Wohnform – angesichts des Bedarfs eindeutig zu wenig, da am schwierigsten zu organisieren. Ohne staatliche Investitionsmittel werden Apartmenthäuser auch in der Zukunft leider die Ausnahme sein.

In allen vier Bezirken haben wir inzwischen sämtliche Wohnformen der Pinel-Gesellschaft in bezirklichen Wohnverbünden zusammengefasst. Neben der durch einen einheitlichen Tagessatz für den Verbund gegebenen verwaltungsmäßigen Vereinfachung besteht der Vorteil für die KlientInnen vor allem darin, dass die Betreuungskontinuität beim Wechsel der Wohnform leichter erhalten werden kann, da das bezirkliche Betreuerteam nicht mehr nur ausschließlich für eine Wohnform zuständig ist.

4.2. Der S-Bahnhof Schöneberg, die Nutzerinitiativen und die Arbeitsprojekte

Will man über die Pinel-Gesellschaft und ihr Wachstum berichten, darf der S-Bahnhof Schöneberg nicht unerwähnt bleiben, in dem sich das heutige Tageszentrum Schöneberg mit Kontakt- und Begegnungsstätte (KBS), Beschäftigungstagesstätte (BTS) und Zuverdienst befindet. 1987 wurde in einem Teil des unter Denkmalschutz stehenden und über Lottomittel umgebauten sowie restaurierten S-Bahnhofgebäudes Schöneberg unsere erste Kontakt- und Begegnungsstätte eröffnet. Vorläufer war der seit 1983 in einer 1 ½-Zi.-Ladenwohnung untergebrachte selbstverwaltete Kontaktladen „Sprungbrett“ mit einer Fotoannahmestelle, Videogruppe und vielen Geselligkeiten.

Das offene und niedrigschwellige Angebot richtete sich zwar zunächst an alle einsamen Menschen im Bezirk, wurde aber hauptsächlich von den Klienten des Betreuten Einzelwohnens und anderen psychisch leidenden Menschen angenommen, von denen jedoch sehr intensiv.

Um den Kontakt zwischen Klienten und dem sozialen Umfeld herzustellen und sinnvolle Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen, hatten wir schon Jahre zuvor geplant, ein Restaurant, ein Cafe und eine Wäscherei als Kern einer Beschäftigungstagesstätte zu eröffnen. Kurz nach Eröffnung der KBS wurden uns hierfür weitere Mittel für den Umbau der übrigen Gebäudeteile bewilligt. Im Juni 1991 nahm die tagessatzfinanzierte BTS ihre Arbeit auf. Im Rahmen des Zuverdienstes sind in den letzten Jahren noch ein Abendrestaurant und ein Zeitungskiosk hinzugekommen. Zwei Personalstellen werden dafür über Zuwendungen finanziert. Die Wäscherei musste in 100 m entfernte Räumlichkeiten umziehen, da Lagerraum benötigt wurde.

Zuverdienstprojekte ermöglichen psychisch kranken oder anderen an den gesellschaftlichen Rand gedrängten Menschen eine stundenweise Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeit.

Der Beschäftigungsbereich bietet in besonderem Maße für die Klienten eine Rolle und Aufgabe. Nicht hoch genug eingeschätzt werden kann der gesundheitsfördernde Wert einer produktiven Tätigkeit, des Gefühls gebraucht zu werden und erwartet zu sein, etwas zu können und zu schaffen. Dieser Bereich vollzieht eine ständige Gratwanderung zwischen betriebswirtschaftlichen Aspekten, z.B. hinsichtlich der Qualitätsanforderungen an das Endprodukt und dem individuellen Betreuungsauftrag, dem im Zweifelsfall der Vorrang einzuräumen ist. Bedauerlicherweise können die ökonomischen Risiken der Arbeitsmöglichkeiten im Zuverdienstbereich nur von mittleren bis größeren Trägern eingegangen werden.

Die Arbeitsfelder in der BTS und im Zuverdienstbereich erfordern jeweils eine Einarbeitung, aber keine Ausbildung. Sie sind so gewählt, dass sie grundsätzlich den Kontakt fördern zwischen den zu betreuenden Menschen und den Kunden. So wird eine sinnvolle Arbeit mit kommunikativer Anforderung verbunden, was die Auseinandersetzung mit einem Kernproblem psychischer Erkrankung, der Kommunikationsstörung fordert. Und die Außenwelt, die Kunden sind aufgefordert, ihre Vorurteile gegen psychisch Kranke zu hinterfragen.

Und noch sehr viel mehr geschieht aber im Tageszentrum. Trialog wird mit Leben gefüllt, auch Angehörige in unterschiedlichster Weise aktiv. Aus den Vollversammlungen entwickelten sich unterstützt von einem engagierten Team etliche Nutzerinitiativen und Überschneidungen mit der Selbsthilfebewegung: Besucher aus dem S-Bahnhof waren auf der Gründungsveranstaltung des Bundes der Psychiatrieerfahrenen in Kloster Irrsee, die NutzerInnengruppe „Nur Mut“ hält im S-Bahnhof Sprechstunden ab, die Stimmenhörerbewegung ist im S-Bahnhof vertreten, das Theater von „Pinelon Forte“ ist inzwischen bekannt und tritt mehrmals jährlich öffentlich auf, die „Galeria Pinella“ bestreitet jährlich mehrere Ausstellungen innerhalb und außerhalb Berlins. Eine vielbeachtete Zeitungsgruppe entstand. Im März 2001 hat hier die Pinel-Band „The Wise & Fools“ ihr erstes Konzert.

Der S-Bahnhof, sein Leben und seine Arbeit hat sich auch als medienfähig erwiesen: das Fernsehen war schon mehrmals da und u.a. DIE ZEIT hat seinem Restaurant „Cafe Pinelli“ einen längeren Artikel gewidmet.

Solche Tageszentren wünschen wir uns in allen Bezirken. Auf die Bedeutung des Raumes und der innovativen Wirkung der im Tageszentrum vereinigten Angebote können wir hier nicht näher eingehen. Wir sind aber davon überzeugt, dass sie eine wichtige Grundlage für die entwickelten Kultur- und Selbsthilfeaktivitäten bilden.

Wie das Apartmentwohnen werden aber auch solche Tageszentren ohne bauliche Investitionsmittel Ausnahmen bleiben.

In Wilmersdorf und Hohenschönhausen hat die Pinel-Gesellschaft inzwischen ebenfalls Beschäftigungs- und Arbeitsprojekte aufgebaut, die in vergleichbarer Weise arbeiten und noch weitere Bereiche beinhalten. Aufgrund fehlender räumlicher Bedingungen gibt es dort aber keine Tageszentren und – so unsere Hypothese- deshalb auch keine nennenswerten Selbsthilfe- und Kulturaktivitäten. In Pankow sind für KBS, BTS und Zuverdienst andere Träger zuständig.

4.3. Der Ausbau der psychosozialen Versorgung in den Bezirken Wilmersdorf, Hohenschönhausen und Pankow

Hat ein Träger in einer Region erst einmal ein Projekt übernommen und führt es erfolgreich, hat er gute Chancen, dort auch weitere Angebote zu entwickeln. So ist es der Pinel-Gesellschaft im Berliner Bezirk Wilmersdorf ergangen. Bis 1990 war Wilmersdorf ohne nennenswerte psychosoziale Versorgungsstrukturen im ambulanten Bereich, hatte aber eine engagierte Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft, die darauf hinarbeitete, dass der kleine Patienten-Club des Sozialpsychiatrischen Dienstes zur Kontaktstätte im Sinne der Expertenkommission ausgebaut werden sollte. Auf der Grundlage eines Kooperationsvertrages zwischen dem Sozialpsychiatrischen Dienst und der Pinel-Gesellschaft übernahmen wir den Patienten-Club in unsere Trägerschaft und entwickelten ihn gemeinsam mit Mitarbeitern des SpD’s in den bisherigen Räumlichkeiten desselben zur KBS „Binger Club“ weiter. Eine Mitarbeiterin des SpDs wurde für die gemeinsame Arbeit freigestellt. Die geschilderte Konstruktion hat sich als sehr fruchtbar erwiesen, die befürchtete Schwellenangst für die Klienten stellte sich nicht ein. Viele besonders beeinträchtigte Besucher haben nur dadurch den Weg zu uns gefunden. Noch im gleichen Jahr 1990 wurde mit dem Aufbau des Projektes Betreutes Einzelwohnen begonnen, das in drei Schritten mit jeweils 16 Plätzen in den Folgejahren weiterentwickelt wurde. 45 Plätze in anderen betreuten Wohnformen sind inzwischen dazugekommen.

1997 konnte auch in Wilmersdorf eine Beschäftigungstagesstätte in Verbindung mit Zuverdienstmöglichkeiten eröffnet werden. Themenzentrierte Gruppen und psychoedukative Angebote flankieren hier einen Café- und Restaurantbetrieb und im Zuverdienst eine Wäscherei, Gebäudereinigung und Gartenarbeit.

Nach der Wende wurde auch die psychiatrische Versorgung der ehemaligen DDR auf bundesrepublikanische Verhältnisse umgestellt. Auf der Basis von Vor-Wende-Kontakten zu Kollegen in Ost-Berlin konnten wir 1990 Mitarbeitern des Patienten-Clubs „Manet-Club“ in Hohenschönhausen die Trägerschaft der Pinel-Gesellschaft zur Weiterentwicklung als Kontakt- und Begegnungsstätte anbieten. Wir waren als in den Weststrukturen erfahrener Träger ambulanter Versorgung willkommen und sicherten zu, dass die Pinel-Gesellschaft für Hohenschönhausen möglichst nur Personal – vor allem auf der Leitungsebene – aus den neuen Bundesländern übernehmen würde. Die ursprüngliche Absicht war, sich zunächst nur als Dach zum Aufbau ambulanter Versorgungsstrukturen zur Verfügung zu stellen, und später den Kollegen aus dem Ostteil der Stadt die Möglichkeit zu lassen, über eine eigene Vereinsgründung sich wieder unabhängig von der Pinel-Gesellschaft zu machen. Von dieser Möglichkeit ist aber bis heute kein Gebrauch gemacht worden. Stattdessen entwickelte sich eine gute fachliche und organisatorische Zusammenarbeit. Ausgehend vom Manet-Club haben wir in Hohenschönhausen teilweise im Verbund mit dem Nachbarbezirk Weissensee inzwischen 59 Plätze für Betreutes Einzelwohnen, 22 TWG-Plätze und 16 Tagesstättenplätze. Einige der Wohngemeinschaftsplätze sind für besondere Zielgruppen vorgesehen: 4 – 6 Plätze für junge Erwachsene, 3-4 für Frauen, die auf Grund von Gewalt- und/oder Missbrauchserfahrung nur mit Frauen wohnen möchten, sowie 3 Plätze für alleinerziehende Eltern mit Kindern.

Die Villa des Manet-Clubs ist auch Ort der Bezirksverwaltungsstelle und Anlaufstelle für das Betreute Wohnen, eine Verflechtung, die konzeptionell gewollt ist.

Schon bald nach Beginn unserer Arbeit in Hohenschönhausen wurde die Pinel-Gesellschaft von Fachleuten aus dem Ostberliner Bezirk Pankow auf eine Zusammenarbeit angesprochen. Dort galten die selben Vorgaben wie für Hohenschönhausen: Personal aus den neuen Bundesländern und die Möglichkeit sich wieder unabhängig zu machen. Vom Bezirk bekamen wir den Gesamtauftrag für den Aufbau betreuter Wohnmöglichkeiten für psychisch kranke Menschen. Dies war mit der Auflage verbunden, für möglichst alle BewohnerInnen statt Heimunterbringung innerhalb unseres Wohnverbundes Lebensmöglichkeiten zu bieten. Inzwischen haben wir in Pankow 103 Wohnplätze, davon 45 im BEW, 23 im Apartmentwohnen und 35 in Therapeutischen Wohngemeinschaften. Der Arbeits- und Freizeitbereich wurde hingegen einem anderen Träger übertragen, um kein Monopol im Bezirk zu bilden.

Die Wende hat etwa die Hälfte unseres Wachstums bewirkt und gleichzeitig unsere Erfahrung bereichert. Der Aufbau neuer Strukturen im ehemaligen Ost-Berlin bedeutete aber auch den Abbau der vorhandenen Strukturen eines vereinheitlichten Versorgungssystems, die in manchem an Italien erinnert. Einiges blieb dabei auf der Strecke, vor allem haben wir nie mehr den Stand der DDR zur Integration in Arbeitsverhältnisse erreicht.

5. Rück- und Ausblick

Mit der 1999 ausgegründeten Pinel gGmbH haben wir bzgl. Größe und Organisationsgrad inzwischen sehr viel bessere Voraussetzungen für die Umsetzung unserer Vorstellungen einer gemeindeintegrierten Psychiatrie als zuvor. Die Pinel-Gesellschaft ist inzwischen ein anerkannter Träger der komplementären Psychiatrie, viele weitere Träger sind in den 80er und 90er Jahren hinzugekommen und machen eine ähnliche Arbeit. Der komplementäre Bereich in Berlin ist inzwischen hoffähig geworden und aus der Berliner Psychiatrielandschaft nicht mehr wegzudenken.

Rückblickend müssen wir aber leider feststellen, dass sehr viele wichtige Ansätze und Vorhaben der Anfangsjahre der Aufbauarbeit zum Opfer fielen. Dringend notwendige öffentliche Stellungnahmen zu psychiatrische Themen, ehemals die Haupttätigkeit der damals Aktiven, wurden zur Seltenheit. Unterbringungen auf internistischen oder sonstigen allgemeinmedizinischen Stationen wurden nicht weiterverfolgt, obwohl uns sehr gelungene – leider nicht veröffentlichte – Beispiele auch aus der BRD bekannt sind. Der Psychiatriefilmverleih blieb auf der Strecke. Die Weiterentwicklung der in den Anfangsjahren intuitiv begonnenen integrierten Psychotherapie in Gruppen einschließlich ihrer Erweiterung auf andere Settings unterblieb. Vorsätze, uns massiv für den leichteren und umfassenderen Zugang psychoseerkrankter Menschen zur kassenfinanzierten Psychotherapie einzusetzen, kamen über heute in Ordnern abgeheftete Konzeptionsentwürfe nicht hinaus. Die Auseinandersetzung mit der psychopharmakologischen Medikation, deren Wirkung oft unter-, aber auch überschätzt wird, müsste noch sehr viel intensiver geführt werden. Die differenzierte Entwicklung von Indikationskriterien für bestimmte Wohnformen blieb im Anfangsstadium stecken wie vieles andere mehr.

1990 wurde für den Berliner Bezirk Schöneberg beim Bundesministerium für Gesundheit ein ausführlicher Antrag für den Aufbau ambulanter psychiatrischer Basisdienste gestellt. Hierzu fand eine sehr stark besuchte Veranstaltung statt, zu der die Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft Schöneberg eingeladen hatte. Nachdem der Antrag vom Ministerium abgelehnt worden war, wurde 1992 – diesmal im Rahmen des kleinen Modellprogramms – ein erneuter diesbezüglicher Antrag beim Ministerium eingereicht. Auch dieser war letztlich nicht erfolgreich. Wir hatten uns vermutlich zu sehr nur auf die bezirkspolitische Ebene und vereinzelte Gespräche mit Abgeordneten beschränkt. Notwendig wären aber mit früher vergleichbare öffentliche Großveranstaltungen mit Politikern und Kostenträgern gewesen.

5.1. Wo stehen wir also heute?

Die bisherigen Aktivitäten zur Entwicklung unserer Unterstützungsangebote haben sich als erfolgreich erwiesen. Zweifelsohne wurde viel erreicht. Neben der bereits dargestellten Entwicklung der verschiedenen Bausteine komplementärer Psychiatrie können hier unvollständig und stichpunktartig noch einige andere Errungenschaften genannt werden. So wurden z.B. Leitlinien für die Arbeit entwickelt, Qualitätszirkel für alle Arbeitsbereiche eingeführt, regelmäßig Gesamtteamtage für alle Mitarbeiter gestaltet sowie zahlreiche interne und externe Fortbildungen organisiert. Im Rahmen der Erarbeitung von Komplexleistungsangeboten wurden alle Nutzer nach ihren Versorgungslücken und Bedarfseinschätzungen befragt sowie die Mitarbeiter nach potentiellen Angeboten. Parallel zu einem durch die Berliner Senatsverwaltung eingeführten „Integriertem Behandlungs- und Rehabilitationsplans“ zur Hilfebedarfserhebung wurde von der Pinel-Gesellschaft eine aus ihrer Sicht angemessenere klientengerechte „Begleitungsvereinbarung“ entwickelt.

Von der Akademie für Psychotherapie wurden wir als Ausbildungsstätte für das „Praktische Jahr“ anerkannt, das die zukünftigen psychologischen Psychotherapeuten ableisten müssen. Sinnvolle Arbeitsmöglichkeiten v.a. im Zuverdienstbereich wurden ständig erweitert. Es gibt allerdings noch keine Arbeitskooperativen, in denen psychisch kranke Menschen mit sonstigen Arbeitslosen etc. zusammenarbeiten. Vielfältige NutzerInnenaktivitäten im Kulturbereich unter Mitwirkung von Künstlern und Angehörigen haben sich entwickelt. Die Mitarbeiter der Pinel-Gesellschaft haben – über lange Zeit weitgehend auf sich selbst gestellt – eine hohe Fachkompetenz erworben, die vor allem von Fachkollegen aus dem Ausland für kaum vorstellbar gehalten wird. Auf dies und einiges mehr können wir wirklich stolz sein.

Auf der anderen Seite aber: Der komplementäre Bereich ist nach wie vor komplementär zum stationären. Als Teil dessen sind wir mit der Pinel-Gesellschaft Etablierte im System. Die früheren Mitkämpfer sind zumeist inzwischen außerhalb Berlins Professoren, Niedergelassene, Leiter von Institutsambulanzen oder Klinikdirektoren. Alle haben sich etabliert. Und die Forderung, dass die stationäre Psychiatrie komplementär werden soll, wird heutzutage in der Bundesrepublik nur noch von sehr wenigen, sozusagen den Unverbesserlichen, ernsthaft vertreten.

Zu fragen ist also: Wie steht es mit uns? Vertreten wir noch die Auffassung, dass die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße gestellt werden müssen? Bestehen wir noch auf der konsequenten Umsetzung der offiziell vertretenen psychiatriepolitischen Forderung, ambulant vor teilstationär, teilstationär vor stationär? Sind wir noch für die Abschaffung des Heimbereichs in der Psychiatrie? Wollen wir, obwohl inzwischen im System etabliert, dieses noch verändern?

Ja, wir wollen. Und wir sind uns bewusst, dass wir trotz Erfolgen immer noch am Anfang stehen und noch ein langer Weg vor uns liegt. Die Bedingungen scheinen sich aber zu bessern. Im Gegensatz zu vor wenigen Jahren hat die Diskussion um Integrationsmodelle inzwischen die bundespolitische Ebene erreicht. Bisher allerdings gelang es den politisch Verantwortlichen im ersten Anlauf nicht, gegen die etablierten Interessengruppen den notwendigen politischen Rahmenbedingungen zum Durchbruch zu verhelfen. Dennoch: Die politische Sensibilisierung ist hier vorangekommen. Diese Situation gilt es zu nutzen. Wie in den Anfangsjahren müssen wir uns wieder massiv politisch einbringen. Dazu gehört auch, die systemimmanenten schon jetzt vorhandenen Möglichkeiten voll zu nutzen, um den Erosionsprozess unseres überholten psychiatrischen Versorgungssystems in Richtung Verambulantisierung zu beschleunigen.

Auf diesem Hintergrund wollen wir jetzt – wiederum notgedrungen unvollständig und beispielhaft- aufzeigen, wie es weitergehen kann. Beginnend bei ganz praktischen sich aus der Alltagsarbeit und deren Grenzen entwickelten Ansätzen soll am Schluss noch einmal unsere Vision der Anfangsjahre aus heutiger Sicht dargestellt werden.

Zuerst also nun zu den sog. kleinen Schritten: Zur Zeit aktuell ist der für die Erfassung des Unterstützungsbedarfs im komplementären Bereich eingeführte integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP), der von der Aktion Psychisch Kranke entwickelt wurde. Der von uns voll unterstützte Ansatz, von den institutionsbezogenen zur personenbezogenen Hilfen überzugehen, verkam hier zu einer Mogelpackung. Statt, wie von den Autoren beabsichtigt, soziale, medizinische (Behandlung und Pflege) sowie berufliche Rehabilitation miteinander zu verknüpfen, kam es nicht einmal zu einem Verbund der Angebote im komplementären Bereich. Bis auf die verschiedenen Wohnformen, die in einem Verbund zusammengefasst werden können, gibt es für alle weiteren Angebotsformen gesonderte Leistungsbeschreibungen. Auch der Kerngedanke der Vereinbarung zwischen Nutzer und Betreuungsorganisation ist nicht wiederzuerkennen. Wir denken jedoch, dass wir den personenzentrierten Ansatz der Hilfebedarfserhebung nutzen sollten im Sinne einer Stärkung der KlientInnenposition. Ausgehend von einer Kritik des IBRP haben wir daher eine Begleitungsvereinbarung nahe an Sprache und Wahrnehmung der Nutzer entwickelt, die wir im Falle seines Einverständnisses mit dem Klienten vertragspartnerschaftlich abschließen, wodurch die Betreuung bzw. Begleitung für ihn durchschaubarer, absehbarer und zielgerichteter werden kann. Wir werden alles in unseren Möglichkeiten Stehende unternehmen, um diesen Vereinbarungen auch juristische Geltung zu verschaffen.

Wir haben Anfang dieses Jahres drei erfahrene Fachärzte mit psychotherapeutischer Zusatzausbildung eingestellt. Der nach den ersten Jahren verlorengegangene Ansatz der integrierten psychotherapeutischen Arbeit soll damit wiederbelebt werden. Einer dieser Kollegen ist bereits in der Institutsambulanz der für uns zuständigen Klinik tätig. Für die anderen Ärzte wird dies angestrebt. Über diesen Weg versuchen wir, die Systemschranke zwischen stationär und außerstationär zu öffnen.

Mit einer für uns zuständigen Klinik sind wir dabei, die Krankenkassen dazu zu bewegen, eine komplexe psychiatrische Behandlung außerhalb der Klinik für ansonsten akut stationär behandlungsbedürftige Klienten durch ein gemeinsames Team von Klinikmitarbeitern und Mitarbeitern der Pinel- Gesellschaft zu fördern und die Leistungen des Klinikpersonals zu vergüten.

Dieses Home-Treatment bezieht sich zunächst einmal auf die KlientInnen, an denen wir mit unseren ausschließlich ambulanten Unterstützungsangeboten gescheitert sind und die in den letzten 2 Jahren überdurchschnittlich viel Tage in der Klinik waren.

Wir bemühen uns um eine Zulassung der Pinel-Gesellschaft für das ambulante Pflegewohnen und setzen uns dafür ein, dass psychiatrische Pflegeleistungen wieder umfassender möglich werden.

Alle diese systemimmanenten Ansätze zielen in dieselbe Richtung: Die Lücke zwischen ambulant / komplementär und stationär muss geschlossen, das fehlende Zwischenglied geschaffen werden. Bei den schwierigsten KlientInnen wird immer wieder deutlich, dass ohne diesen Schritt die Forderung nach der Komlementarität von Kliniken und Heimen völlig unrealistisch bleiben wird. Und dies, obwohl der ambulante Bereich (Niedergelassene; Sozialpsychiatrische Dienste und Institutsambulanzen) eindeutig weiter ausgebaut worden ist und es inzwischen auch einen Berliner Krisendienst gibt.

5.2. Was also sind auch heute noch unsere Forderungen?

Wie stellen wir uns den Transformationsprozess auf dem Hintergrund, dass wir noch nicht aufgegeben haben, vor?

Wir versuchten darzustellen, dass die fachliche Entwicklung mit ihrer eindeutigen Orientierung ambulant vor stationär heute den strukturellen Rahmenbedingungen weit vorausgeeilt ist. Noch ist es so, dass die großen finanziellen und personellen Ressourcen im stationären Bereich liegen. Diesen gilt es zu „verambulantisieren“.

Unser mittel- und langfristiges Ziel ist ein Trägerverbund, da nur dieser die von uns geforderten subsektorisierten multiprofessionellen 24-Stunden-Dienste ermöglicht. Alle Träger einer Region, d. h. konkret die Klinik, der Sozialpsychiatrische Dienst, die Institutsambulanz, die Träger der ambulant-komplementären Versorgung und die Träger beruflicher Rehabilitation müssten sich auf regionaler Ebene zu einem Trägerverbund zusammenschließen, so dass letztlich alle Funktionsbereiche – die Behandlung, Pflege und Rehabilitation, die Hilfen zum Wohnen, die Hilfen zur Tagesstrukturierung, zur Arbeit und in Krisen – vernetzt zusammenarbeiten könnten. Aber schon ein Trägerverbund von stationär und komplementär wäre ein großer Schritt, um der heutigen Undurchlässigkeit zwischen diesen Bereichen entgegenzuwirken.

Eine Integration der Niedergelassenen (Nervenärzte und Psychotherapeuten) in einen Trägerverbund wäre ebenfalls dringend erforderlich, auch wenn er in absehbarer Zeit leider wohl kaum realisiert werden kann.

Ein Trägerverbund von ausschließlich komplementären Trägern scheint nur sinnvoll, wenn eine Erweiterung wie oben dargestellt verbindlich angestrebt wird. Ansonsten bleibt er ein Verbund der Schwachen – denn, um einen Kollegen zu zitieren: „Fünf Bettler ergeben keinen Baron.“ Stattdessen müssen die zentralen Stützen der psychiatrischen Versorgung miteinbezogen werden, um so auf eine fachlich sinnvolle Umstrukturierung hinzuwirken, die den ambulanten Bereich stärkt und den stationären zum komplementären der psychiatrischen Hilfeangebote werden lässt.

Der Trägerverbund kann dazu beitragen, die systemimmanenten Probleme unseres psychiatrischen Versorgungssystems, die sich aus dem Bettenbelegungszwang, dem Behandlungsmonopol und einem gesplitteten Finanzierungssystem ergeben, abzuschwächen, bzw. langfristig zu überwinden.

Warum könnten nicht alle Mitglieder des Verbundes gleichermaßen, d.h. Klinik, SpD, Institutsambulanz wie Träger komplementärer Unterstützungsangeboten in einem gemeinsamen Team mit Behandlungskompetenz zusammenarbeiten? Und damit auch den – wie es so diskriminierend wie deutlich heißt – „Nicht Wartezimmerfähigen“ außerhalb der Klinik gerecht werden zu können? Gerade für sie muss der Sicherstellungsauftrag der Niedergelassenen Nervenärzte aufgeweicht werden.

Warum sollte es nicht möglich sein, zunächst einmal auf eine „Verambulantisieung“ des stationären Bereiches im Sinne psychiatrisch/psychotherapeutischer Behandlung außerhalb der Klinik hinzuarbeiten? Andere europäische Länder sind diesen Weg schon gegangen. Hier gibt es den Vorteil, dass bereits ein relativ weit entwickelter komplementärer Bereich existiert, mit dem zusammengearbeitet werden kann.

Ein Verbund würde Behandlungs-, Pflege- und Betreuungsangebote im Sinne einer größeren NutzerInnenorientierung flexibilisieren und damit den gegenwärtigen Paradigmenwechsel von einer institutionsbezogenen zu einer personenbezogenen Hilfeleistung organisatorisch begünstigen.

Von der Psychiatrieenquete über den Bericht der Expertenkommission der Bundesregierung bis zum Berliner Psychiatrie-Entwicklungs-Plan wiederholt sich immer dasselbe Strickmuster: Einzelne, verstreut herumliegende Bausteine bleiben in ihrer Substanz Bausteine und bilden noch kein Haus.

Ein Trägerverbund mit allen Funktionsbereichen bietet ein organisatorisches und operatives Dach für alle an der Versorgung Beteiligten. Zwei teuere und unverbunden nebeneinanderstehende Versorgungssysteme, die auf die Dauer sowie so nicht finanzierbar sind, hätten nun ein gemeinsames virtuelles Haus.

Aber – das kann nicht genug betont werden – es kommt auf die Verbindlichkeit an. Und diese ist unserer festen Überzeugung nach nur gegeben, wenn die verschiedenen Funktionsbereiche sich in einer gemeinsamen geeigneten Rechtsform zum Verbundträger zusammenschließen. Der Verbundträger als einheitlicher Arbeitgeber und Finanzempfänger würde ermöglichen, dass der Paradigmenwechsel vom institutions- zum patientenzentrierten Ansatz stattfinden kann. Die Verwaltung würde zentralisiert und könnte sich um die Finanzierungsmittel aus Krankenkassen, Pflegekassen, Sozialhilfe etc. kümmern. Auch hier käme es zu beträchtlichen Synergieeffekten. Die Wettbewerbsposition gegenüber nicht gemeinnützigen Anbietern würde bes. für die jetzigen Träger komplementärer Angebote gestärkt. Notwendige Investitionen würden erleichtert.

Und vor allem: Das Personal wäre an die gemeinsame Aufgabe gebunden und könnte subsektorisierte 24-Stunden-Dienste bilden. Die italienischen Dienste, aber auch Beispiele in England, Neuseeland und Australien von Bettenmessziffern mit teilweise 0,1 Promille haben gezeigt, dass, wo sie wirklich als 24-Stunden-Dienst vernetzt arbeiten, sie in der Lage sind, angemessene, prompte und konsistente Antworten auf die Bedürfnisse der Hilfesuchenden zu geben und Kontinuität in Behandlung und Betreuung zu gewährleisten.

Soviel zu den Strukturen. Das Leben ist damit nicht beschrieben. Nicht die Frage nach den konkreten Räumen noch die nach den notwendigen Haltungen. Und last not least, vor allem nicht die wichtigste Frage: Was tun, damit den Psychiatrieerfahrenen als Experten in eigener Sache dieses Expertentum auch wirklich zugutekommt?

Noch immer leitet uns die Überzeugung, dass nur die Sache verloren ist, die man selber aufgibt.